Kapitel 32 des Romans
„Massaker in Georgien“, von Dumitru Crudu
Georgiana und Angelo hielten sich bei der Hand und rannten. Sie rannten ins Tal, zum Fluss. Sie rannten durch Nebengassen. Dicht neben einander rannten sie gegen den Strom von Männern und Frauen, die die Stadt verließen, oder den staubigen Kolonnen von Flüchtlingen aus Abchasien und Südossetien, die nach Tiflis hereinkamen. Sie hockten sich hin, als nur ein paar Schritte entfernt Schüsse fielen, dann rannten sie weiter. Wer weiß, wer da schoss und auf wen, aber die Kugeln pfiffen ihnen um die Ohren und bissen Stücke aus den Hausmauern heraus, an denen sie vorbei rannten. Irgendwann wurde ihre Flucht riskant und abwegig, so dass Georgiana und Angelo sich hinter einem roten Haus versteckten, an dessen Fenstern die Vorhänge zugezogen waren, und warteten, dass das Rattern der automatischen Gewehre aufhörte. Sie warteten auf einige Minuten Ruhe, in denen sie weiter zum Heim rennen konnten, in dem Georgiana wohnte, das Rattern wurde aber gemeiner, sodass die zwei jungen Leute sich auf den Bauch legten und ihre Köpfe mit den Händen zudeckten. Sie hatten sich hinter einem Haus mit rotem Dach und geschlossenen Fensterläden versteckt, ohne zu wissen, dass es das Haus von Nadeschda Filipovna Ostoumnaja war, die zuhause war und zum zehnten Mal an diesem Tag den Boden wischte, obwohl dieser bereits vor Sauberkeit glänzte.
Als sie mit Bodenwischen fertig war, begann sie mit einem feuchten Tuch die Kästen, die Fensterläden, die Regale, die Tische, die Stühle, die Bettbeine, die unteren Bettleisten abzuwischen. Und als sie auch damit fertig war, begann sie, wahrscheinlich auch zum zehnten Mal, das Geschirr zu spülen. Sie spülte Glas um Glas, Gabel um Gabel, Messer um Messer, Teller um Teller, Suppentopf um Suppentopf, Reindl um Reindl. Nachdem sie das letzte Reindl gespült hatte, lies Nadeschda Filipovna ihren Blick durch die Wohnung schweifen, die ihr noch immer schmutzig vorkam, sodass sie sich versprach, sie in einer halben Stunde noch einmal zu putzen. Jetzt musste sie aber Soso, der noch immer gelähmt war und seine vier Pfoten nicht bewegen konnte, eine Magnesiuminjektion in seinen Hintern verpassen. Nachdem sie Soso mit der Injektionsnadel gepiekst hatte und sich sein Piepsen anhörte, erinnerte sich Nadeschda Filipovna daran, dass es Abend war und sie die Katze Valentina Ivanovnas füttern musste. Sie wärmte die Milch und goss sie in einen hölzernen Napf. Sie setzte sich auf die Armlehne eines Sessels und betrachtete vergnügt Suliko, die ihre Milch mampfte. Während die Katze den Napf abschleckte, dachte Nadeschda Filipovna, Valentina Ivanovna sei schlicht und einfach eine Kuh. Erstens, weil sie Tiflis verlassen hatte, und zweitens, weil sie dies getan hatte, ohne es ihr zu sagen, obwohl sie vor ihrer Nase im Wohnblock gegenüber wohnte. Nadeschda Filipovna füllte den Napf noch einmal, Suliko liebte die Milch, und erinnerte sich, wie grässlich jene Augenblicke gewesen waren, als sie entdeckt hatte, dass Familie Brovkin Tiflis den Rücken gekehrt hatte. Natürlich hatte sie es nur zufällig erfahren. Sie hatte es am Vortag erfahren, als das Schießen aufgehört hatte, und sie, Nadeschda Filipovna sich den Übergangsmantel übergeworfen und sich mit einer Kanne Wein zu Valentina Ivanovna begeben hatte, um auf das Wohl der Seele ihres Gatten zu trinken, Genosse Oberst Dionisie Dionisjevitsch Ostroumnyj, der in einer dunklen Gasse der Stadt Suhumi vor etwa einem Monat getötet worden war. Und da nach dem Klingeln keiner die Tür aufgemacht hatte, sperrte Nadeschda Filipovna selbst auf, denn die Freundschaft der beiden Frauen war so groß, dass sie die Schlüssel der jeweils anderen besaßen. Als sie in der Wohnung war, sank Nadeschda Filipovna bleich und mit eingefallenen Wangen zu Boden, weil sie entdecken musste, dass die Wohnung Valentina Ivanovnas leer war. Das hatte sie dermaßen mitgenommen, dass sie über eine halbe Stunde lang nichts anderes tun konnte als hilflos zu blinzeln, weil sie nicht verstehen konnte, wo Valentina Ivanovnas Möbel geblieben waren. Vom Wohnzimmer ging sie ins Schlafzimmer, und überall stellte sie das Gleiche fest: eine ratzeputz kahle, leere, verlassene Wohnung. In Valentina Ivanovnas Wohnung war kein einziger Sessel oder ein Sofa geblieben, was nur eines bedeuten konnte: dass sich das Ehepaar Brovkin zum Bahnhof geschlichen hatte, ohne sich von Nadeschda Filipovna verabschiedet und ohne ihr die Absichten, die sie in ihren egoistischen Köpfen ausgeheckt hatten, mitgeteilt zu haben. Nadeschda Filipovna lief von einem Zimmer ins andere und alle, aber auch wirklich alle, waren absolut leer. Nur in der Küche fand sie ein weißes Plastiksäckchen. Sie machte es auf und sah darin alle Geschenke, die sie im Laufe der Zeit Valentina Ivanovna gebracht hatte: zwei Krasnaja Moskva Parfums, ein polnisches Kölnisch Wasser Marke Byti Mojet, ein Stalingrad-Album, ein Samowar, eine elektrische Teekanne und alle von Nadeschda Filipovna gemachten Fotos, in denen die zwei "Schwestern" sich umarmend am Roten Platz standen, vor dem Kremlin, oder im Hof des Geburtshauses von Volodja Uljanov. Diese Entdeckung verstörte sie dermaßen, dass ihr die Tränen kamen und ihr Gesicht fahl wie Löschpapier wurde. Nadeschda Filipovna bezweifelte jetzt, dass zwischen ihr und Valentina Ivanovna je eine echte Freundschaft bestanden hatte. Sie hatte den Eindruck, Valentina Ivanovna hatte sie gepflanzt. Ihre Gedanken über diese neuerliche und lästige Enttäuschung wurden aber durch das Miauen einer Katze zerstreut, das aus der Richtung eines Küchenschranks kam. Nadeschda Filipovna öffnete die Tür des einzigen Schranks, der noch in der Wohnung geblieben war, und Suliko, die Katze ihrer ehemaligen Freundin, sprang in ihre Arme; die blöde Kuh hatte sie wohl da drinnen vergessen, als sie sich in aller Eile verdrückte, oder vielleicht hatte sie das Tier absichtlich in den Kasten eingesperrt, um eine Sorge weniger zu haben, und damit es ihr nicht in die Quere kommen konnte, als sie versuchte, so schnell wie möglich aus Tiflis zu verschwinden. Damit sank Valentina Ivanovna noch tiefer in den Augen Nadeschda Filipovnas, die sich, wer weiß warum, dabei an ein Theaterstück von Tschechow erinnerte, dass sie in einem Moskauer Theater vor ungefähr zwanzig Jahren gesehen hatte, dessen Titel ihr aber entfallen war. Sie kraulte Suliko hinter den Ohren und dachte, sie würde dieser unverantwortlichen Schlampe die Leviten lesen, natürlich, falls sie dazu noch die Gelegenheit haben sollte, aber Nadeschda Filipovna war sich sicher, dass es dazu kommen würde. Mit diesem heldenhaftem Vorhaben und der Katze im Arm verließ sie speibend die leere Wohnung der Familie Brovkin. Und das war keinen Moment zu früh, denn gleich nachdem sie die Wohnungstür zugeknallt hatte, tauchten schon die neuen Besitzer auf, mit ihren Möbel und ihrem ganzen Krempel. Nadeschda Filipovna war in den Hof hinausgegangen und hatte den Schlüssel in einen Papierkorb geworfen. Das Rattern der Gewehre brachte sie dazu, schneller in ihr Haus zu flüchten. Nachdem sie Suliko gefüttert und sich Watte in die Ohren gestopft hatte, begann sie wieder den Boden zu wischen, obwohl dieser wie ein Spiegel glänzte, aber Nadeschda Filipovna fand ihn trotzdem nicht sauber genug. Als sie den Kübel in die Mitte des Raumes schob, war ein Augenblick der Ruhe entstanden, genau so wie jetzt. Damals hatte Nadeschda Filipovna angefangen laut zu schluchzen. Jetzt setzte sie sich auf die Armlehne des Sessels und betrachtete ergriffen Suliko, die bereits an ihrer dritten Schüssel Milch naschte.
Die eingekehrte Ruhe freute auch Angelo und Georgiana, die plötzlich aufstanden, um das Haus Nadeschda Filipovnas herum gingen und zum Heim des Mädchen liefen. Die beiden blieben verdutzt stehen, als sie etwa eine Stunde später schweißgebadet und außer Atem vor dem Heim standen, das sich auf einer Anhöhe befand. Sie erstarrten inmitten einer sich in Panik befindlichen Menschenmenge, denn das, was sie zu sehen bekamen, überstieg jede Vorstellungskraft. Georgianas Heim brannte. Es brannte im wahrsten Sinne des Wortes, eingehüllt in einer schwarzen Rauchwolke. Es krachte an allen Ecken und drohte gleich zusammenzufallen oder in die Luft zu gehen. Die Flammen schluckten Türen und Fenster und schossen aus den letzteren in ihrem Versuch, aufs Dach zu klettern. Das Flammenmeer biss von allen Seiten in die Mauern und warf dicke Flammensträhnen in den Schlund des Gebäudes. Das Feuer wurde immer kräftiger und war fast dabei, das sechzehnstöckige Haus zu erwürgen. Entkräftet schrie Georgiana:
"Das kann nicht mein Heim sein!"
Je mehr sie sich das rußgeschwärzte Skelettgebäude ansah, desto mehr bekam sie das Gefühl, dass ihr Verstand auch Feuer fängt, und sie fragte sich: "Und wo werden wir heute Nacht schlafen?" Auf einmal schoss ihr eine Entscheidung durch den Kopf, die keinen Aufschub duldete. Sie musste in das Gebäude und ihre Sachen retten. Georgiana ergriff Angelos Hand und heftig hustend schlichen beide ins Innere des von Flammen geleckten Hauses. Sie gingen an der Wand des Korridors entlang zu Georgianas Zimmer, und dabei teilten sie die Menge an Buben und Mädchen, die mit Koffern im Arm nach außen zu gelangen versuchten. Die Menge an Buben und Mädchen versuchte aus dem Heim Fernseher, Magnetofone, Sessel und Sofas hinauszutragen. In den oberen Stockwerken waren noch vereinzelte Schüsse zu hören, und in dem Gang, den sie entlangliefen, sich dabei an den Händen haltend, waren die Wände schwarz vor Ruß und von Geschoßen zerkratzt. Genauso sah auch Georgianas Zimmer aus, in das sie schließlich hineinstürzten – um sich dann an den Kopf zu greifen, denn das Zimmer war völlig leer. Und das nicht wegen dem Feuer. Es sah so aus, als ob vor dem Feuer ein Horde Räuber sich alles gegriffen hatte, was man wegtragen konnte: Kleider, Jacken, Pelze, Blue Jeans, Geld, Armbänder, Halsketten, Nachthemden, Büstenhalter, Höschen, französische Parfums oder Kondome, und den Flammen nur das überließ, was sie nicht interessierte: die Vorhänge an den Fenstern oder die Matratzen und Decken auf den Betten. Georgiana lief verwirrt im Zimmer hin und her. Angelo öffnete die von Flammen gestreichelten und geschleckten Kastentüren, um wenigstens die Papiere des Mädchens zu finden. Er schnappte sich den Pass, kurz bevor der von den Flammen zu einem Häufchen Asche verwandelt werden konnte. Danach versetzte er der in Flammen stehenden Zimmertür einen Tritt, ergriff Georgianas Arm und lief so schnell er konnte durch den raucherfüllten Korridor. Mit geschlossenen Augen sprangen sie in den Hof und konnten sie erst öffnen, nachdem sie etwa hundert Meter vom brennenden Gebäude entfernt waren, also dort, wo im Hof des Heimes Bäume standen, ein Gelände, das inzwischen zu einem Schlachtfeld der Studenten geworden war, jenen, die Gamsahurdia unterstützen und denjenigen, die für Tenghiz Kitovani und die Nationalgarde waren. Angelo und Georgiana setzten sich wieder in Bewegung, um sich vor den immer noch über ihre Köpfe pfeifenden Schüsse in Sicherheit zu bringen. Sie liefen, ohne genau zu wissen wohin, und dabei wurde Georgiana irgendwann bewusst, dass sie eigentlich allein lief. Als ihr das klar wurde, blieb sie neben einem Baum stehen und fragte sich: „Wo ist Angelo? Ob er getroffen wurde, während wir liefen?“ Sie begann ihn zu suchen, und während sie seinen Namen rief, betrat sie wieder den Hof des Heimes. Angelo war aber nirgends zu sehen, und in ihrem Innersten begann die irrationale Angst zu brodeln, dass der junge Mann erschossen wurde. Diese wurde gleich durch ein noch brennenderes Gefühl übertroffen, nämlich dass der Student, der sein Gesicht an die Kalaschnikow drückte, ihrem Vater, der sich ohne Grund, sein Hirn weggepustet hatte, zum Verwechseln ähnlich war. Dieser Gedanke brachte sie in die Realität zurück, und ein sexuelles Verlangen von noch nie dagewesener Intensität überkam sie mit dem Wunsch, mit den Studenten, die auf einander schossen, zu schlafen. Eine unbekannte Kraft trieb sie dazu, sich auszuziehen, ihren Rock über den Kopf zu schwingen und den schießenden Studenten zuzurufen: „Ich will euch alle.“ Georgiana war gleichzeitig klar, dass sie diesen schändlichen Gedanken, der ihren ganzen Körper elektrisierte, nur dann loswerden konnte, wenn sie Angelo finden würde. Sie drehte sich um und begann den Poeten zu suchen, sie lief zurück in den kleinen Wald und rief seinen Namen. Der Poet war aber nirgends zu sehen, draußen wurde es immer dunkler, und je dunkler es wurde, desto stärker wurde Georgiana von dem unmenschlichen Wunsch erschüttert, zu den Soldaten zurückzukehren und mit ihnen bis zum Morgen Sex zu haben. Georgiana hockte sich hin und begann zu weinen. Ein hagerer alter Mann erschien an ihrer Seite und sagte:
"Folge mir."
Georgiana ging ihm folgsam nach, verließ den Wald und ging die U-Bahntreppe hinunter. Als sie den Bahnsteig erreichten, sagte Schota zu ihr:
"Geh und setz dich auf dem Stuhl da drüben."
Das Mädchen setzte sich hin, und als sie sich umsah, war der alte Mann nirgends zu sehen.
Aus dem Rumänischen von Aranca Munteanu
„Massaker in Georgien“, von Dumitru Crudu
Georgiana und Angelo hielten sich bei der Hand und rannten. Sie rannten ins Tal, zum Fluss. Sie rannten durch Nebengassen. Dicht neben einander rannten sie gegen den Strom von Männern und Frauen, die die Stadt verließen, oder den staubigen Kolonnen von Flüchtlingen aus Abchasien und Südossetien, die nach Tiflis hereinkamen. Sie hockten sich hin, als nur ein paar Schritte entfernt Schüsse fielen, dann rannten sie weiter. Wer weiß, wer da schoss und auf wen, aber die Kugeln pfiffen ihnen um die Ohren und bissen Stücke aus den Hausmauern heraus, an denen sie vorbei rannten. Irgendwann wurde ihre Flucht riskant und abwegig, so dass Georgiana und Angelo sich hinter einem roten Haus versteckten, an dessen Fenstern die Vorhänge zugezogen waren, und warteten, dass das Rattern der automatischen Gewehre aufhörte. Sie warteten auf einige Minuten Ruhe, in denen sie weiter zum Heim rennen konnten, in dem Georgiana wohnte, das Rattern wurde aber gemeiner, sodass die zwei jungen Leute sich auf den Bauch legten und ihre Köpfe mit den Händen zudeckten. Sie hatten sich hinter einem Haus mit rotem Dach und geschlossenen Fensterläden versteckt, ohne zu wissen, dass es das Haus von Nadeschda Filipovna Ostoumnaja war, die zuhause war und zum zehnten Mal an diesem Tag den Boden wischte, obwohl dieser bereits vor Sauberkeit glänzte.
Als sie mit Bodenwischen fertig war, begann sie mit einem feuchten Tuch die Kästen, die Fensterläden, die Regale, die Tische, die Stühle, die Bettbeine, die unteren Bettleisten abzuwischen. Und als sie auch damit fertig war, begann sie, wahrscheinlich auch zum zehnten Mal, das Geschirr zu spülen. Sie spülte Glas um Glas, Gabel um Gabel, Messer um Messer, Teller um Teller, Suppentopf um Suppentopf, Reindl um Reindl. Nachdem sie das letzte Reindl gespült hatte, lies Nadeschda Filipovna ihren Blick durch die Wohnung schweifen, die ihr noch immer schmutzig vorkam, sodass sie sich versprach, sie in einer halben Stunde noch einmal zu putzen. Jetzt musste sie aber Soso, der noch immer gelähmt war und seine vier Pfoten nicht bewegen konnte, eine Magnesiuminjektion in seinen Hintern verpassen. Nachdem sie Soso mit der Injektionsnadel gepiekst hatte und sich sein Piepsen anhörte, erinnerte sich Nadeschda Filipovna daran, dass es Abend war und sie die Katze Valentina Ivanovnas füttern musste. Sie wärmte die Milch und goss sie in einen hölzernen Napf. Sie setzte sich auf die Armlehne eines Sessels und betrachtete vergnügt Suliko, die ihre Milch mampfte. Während die Katze den Napf abschleckte, dachte Nadeschda Filipovna, Valentina Ivanovna sei schlicht und einfach eine Kuh. Erstens, weil sie Tiflis verlassen hatte, und zweitens, weil sie dies getan hatte, ohne es ihr zu sagen, obwohl sie vor ihrer Nase im Wohnblock gegenüber wohnte. Nadeschda Filipovna füllte den Napf noch einmal, Suliko liebte die Milch, und erinnerte sich, wie grässlich jene Augenblicke gewesen waren, als sie entdeckt hatte, dass Familie Brovkin Tiflis den Rücken gekehrt hatte. Natürlich hatte sie es nur zufällig erfahren. Sie hatte es am Vortag erfahren, als das Schießen aufgehört hatte, und sie, Nadeschda Filipovna sich den Übergangsmantel übergeworfen und sich mit einer Kanne Wein zu Valentina Ivanovna begeben hatte, um auf das Wohl der Seele ihres Gatten zu trinken, Genosse Oberst Dionisie Dionisjevitsch Ostroumnyj, der in einer dunklen Gasse der Stadt Suhumi vor etwa einem Monat getötet worden war. Und da nach dem Klingeln keiner die Tür aufgemacht hatte, sperrte Nadeschda Filipovna selbst auf, denn die Freundschaft der beiden Frauen war so groß, dass sie die Schlüssel der jeweils anderen besaßen. Als sie in der Wohnung war, sank Nadeschda Filipovna bleich und mit eingefallenen Wangen zu Boden, weil sie entdecken musste, dass die Wohnung Valentina Ivanovnas leer war. Das hatte sie dermaßen mitgenommen, dass sie über eine halbe Stunde lang nichts anderes tun konnte als hilflos zu blinzeln, weil sie nicht verstehen konnte, wo Valentina Ivanovnas Möbel geblieben waren. Vom Wohnzimmer ging sie ins Schlafzimmer, und überall stellte sie das Gleiche fest: eine ratzeputz kahle, leere, verlassene Wohnung. In Valentina Ivanovnas Wohnung war kein einziger Sessel oder ein Sofa geblieben, was nur eines bedeuten konnte: dass sich das Ehepaar Brovkin zum Bahnhof geschlichen hatte, ohne sich von Nadeschda Filipovna verabschiedet und ohne ihr die Absichten, die sie in ihren egoistischen Köpfen ausgeheckt hatten, mitgeteilt zu haben. Nadeschda Filipovna lief von einem Zimmer ins andere und alle, aber auch wirklich alle, waren absolut leer. Nur in der Küche fand sie ein weißes Plastiksäckchen. Sie machte es auf und sah darin alle Geschenke, die sie im Laufe der Zeit Valentina Ivanovna gebracht hatte: zwei Krasnaja Moskva Parfums, ein polnisches Kölnisch Wasser Marke Byti Mojet, ein Stalingrad-Album, ein Samowar, eine elektrische Teekanne und alle von Nadeschda Filipovna gemachten Fotos, in denen die zwei "Schwestern" sich umarmend am Roten Platz standen, vor dem Kremlin, oder im Hof des Geburtshauses von Volodja Uljanov. Diese Entdeckung verstörte sie dermaßen, dass ihr die Tränen kamen und ihr Gesicht fahl wie Löschpapier wurde. Nadeschda Filipovna bezweifelte jetzt, dass zwischen ihr und Valentina Ivanovna je eine echte Freundschaft bestanden hatte. Sie hatte den Eindruck, Valentina Ivanovna hatte sie gepflanzt. Ihre Gedanken über diese neuerliche und lästige Enttäuschung wurden aber durch das Miauen einer Katze zerstreut, das aus der Richtung eines Küchenschranks kam. Nadeschda Filipovna öffnete die Tür des einzigen Schranks, der noch in der Wohnung geblieben war, und Suliko, die Katze ihrer ehemaligen Freundin, sprang in ihre Arme; die blöde Kuh hatte sie wohl da drinnen vergessen, als sie sich in aller Eile verdrückte, oder vielleicht hatte sie das Tier absichtlich in den Kasten eingesperrt, um eine Sorge weniger zu haben, und damit es ihr nicht in die Quere kommen konnte, als sie versuchte, so schnell wie möglich aus Tiflis zu verschwinden. Damit sank Valentina Ivanovna noch tiefer in den Augen Nadeschda Filipovnas, die sich, wer weiß warum, dabei an ein Theaterstück von Tschechow erinnerte, dass sie in einem Moskauer Theater vor ungefähr zwanzig Jahren gesehen hatte, dessen Titel ihr aber entfallen war. Sie kraulte Suliko hinter den Ohren und dachte, sie würde dieser unverantwortlichen Schlampe die Leviten lesen, natürlich, falls sie dazu noch die Gelegenheit haben sollte, aber Nadeschda Filipovna war sich sicher, dass es dazu kommen würde. Mit diesem heldenhaftem Vorhaben und der Katze im Arm verließ sie speibend die leere Wohnung der Familie Brovkin. Und das war keinen Moment zu früh, denn gleich nachdem sie die Wohnungstür zugeknallt hatte, tauchten schon die neuen Besitzer auf, mit ihren Möbel und ihrem ganzen Krempel. Nadeschda Filipovna war in den Hof hinausgegangen und hatte den Schlüssel in einen Papierkorb geworfen. Das Rattern der Gewehre brachte sie dazu, schneller in ihr Haus zu flüchten. Nachdem sie Suliko gefüttert und sich Watte in die Ohren gestopft hatte, begann sie wieder den Boden zu wischen, obwohl dieser wie ein Spiegel glänzte, aber Nadeschda Filipovna fand ihn trotzdem nicht sauber genug. Als sie den Kübel in die Mitte des Raumes schob, war ein Augenblick der Ruhe entstanden, genau so wie jetzt. Damals hatte Nadeschda Filipovna angefangen laut zu schluchzen. Jetzt setzte sie sich auf die Armlehne des Sessels und betrachtete ergriffen Suliko, die bereits an ihrer dritten Schüssel Milch naschte.
Die eingekehrte Ruhe freute auch Angelo und Georgiana, die plötzlich aufstanden, um das Haus Nadeschda Filipovnas herum gingen und zum Heim des Mädchen liefen. Die beiden blieben verdutzt stehen, als sie etwa eine Stunde später schweißgebadet und außer Atem vor dem Heim standen, das sich auf einer Anhöhe befand. Sie erstarrten inmitten einer sich in Panik befindlichen Menschenmenge, denn das, was sie zu sehen bekamen, überstieg jede Vorstellungskraft. Georgianas Heim brannte. Es brannte im wahrsten Sinne des Wortes, eingehüllt in einer schwarzen Rauchwolke. Es krachte an allen Ecken und drohte gleich zusammenzufallen oder in die Luft zu gehen. Die Flammen schluckten Türen und Fenster und schossen aus den letzteren in ihrem Versuch, aufs Dach zu klettern. Das Flammenmeer biss von allen Seiten in die Mauern und warf dicke Flammensträhnen in den Schlund des Gebäudes. Das Feuer wurde immer kräftiger und war fast dabei, das sechzehnstöckige Haus zu erwürgen. Entkräftet schrie Georgiana:
"Das kann nicht mein Heim sein!"
Je mehr sie sich das rußgeschwärzte Skelettgebäude ansah, desto mehr bekam sie das Gefühl, dass ihr Verstand auch Feuer fängt, und sie fragte sich: "Und wo werden wir heute Nacht schlafen?" Auf einmal schoss ihr eine Entscheidung durch den Kopf, die keinen Aufschub duldete. Sie musste in das Gebäude und ihre Sachen retten. Georgiana ergriff Angelos Hand und heftig hustend schlichen beide ins Innere des von Flammen geleckten Hauses. Sie gingen an der Wand des Korridors entlang zu Georgianas Zimmer, und dabei teilten sie die Menge an Buben und Mädchen, die mit Koffern im Arm nach außen zu gelangen versuchten. Die Menge an Buben und Mädchen versuchte aus dem Heim Fernseher, Magnetofone, Sessel und Sofas hinauszutragen. In den oberen Stockwerken waren noch vereinzelte Schüsse zu hören, und in dem Gang, den sie entlangliefen, sich dabei an den Händen haltend, waren die Wände schwarz vor Ruß und von Geschoßen zerkratzt. Genauso sah auch Georgianas Zimmer aus, in das sie schließlich hineinstürzten – um sich dann an den Kopf zu greifen, denn das Zimmer war völlig leer. Und das nicht wegen dem Feuer. Es sah so aus, als ob vor dem Feuer ein Horde Räuber sich alles gegriffen hatte, was man wegtragen konnte: Kleider, Jacken, Pelze, Blue Jeans, Geld, Armbänder, Halsketten, Nachthemden, Büstenhalter, Höschen, französische Parfums oder Kondome, und den Flammen nur das überließ, was sie nicht interessierte: die Vorhänge an den Fenstern oder die Matratzen und Decken auf den Betten. Georgiana lief verwirrt im Zimmer hin und her. Angelo öffnete die von Flammen gestreichelten und geschleckten Kastentüren, um wenigstens die Papiere des Mädchens zu finden. Er schnappte sich den Pass, kurz bevor der von den Flammen zu einem Häufchen Asche verwandelt werden konnte. Danach versetzte er der in Flammen stehenden Zimmertür einen Tritt, ergriff Georgianas Arm und lief so schnell er konnte durch den raucherfüllten Korridor. Mit geschlossenen Augen sprangen sie in den Hof und konnten sie erst öffnen, nachdem sie etwa hundert Meter vom brennenden Gebäude entfernt waren, also dort, wo im Hof des Heimes Bäume standen, ein Gelände, das inzwischen zu einem Schlachtfeld der Studenten geworden war, jenen, die Gamsahurdia unterstützen und denjenigen, die für Tenghiz Kitovani und die Nationalgarde waren. Angelo und Georgiana setzten sich wieder in Bewegung, um sich vor den immer noch über ihre Köpfe pfeifenden Schüsse in Sicherheit zu bringen. Sie liefen, ohne genau zu wissen wohin, und dabei wurde Georgiana irgendwann bewusst, dass sie eigentlich allein lief. Als ihr das klar wurde, blieb sie neben einem Baum stehen und fragte sich: „Wo ist Angelo? Ob er getroffen wurde, während wir liefen?“ Sie begann ihn zu suchen, und während sie seinen Namen rief, betrat sie wieder den Hof des Heimes. Angelo war aber nirgends zu sehen, und in ihrem Innersten begann die irrationale Angst zu brodeln, dass der junge Mann erschossen wurde. Diese wurde gleich durch ein noch brennenderes Gefühl übertroffen, nämlich dass der Student, der sein Gesicht an die Kalaschnikow drückte, ihrem Vater, der sich ohne Grund, sein Hirn weggepustet hatte, zum Verwechseln ähnlich war. Dieser Gedanke brachte sie in die Realität zurück, und ein sexuelles Verlangen von noch nie dagewesener Intensität überkam sie mit dem Wunsch, mit den Studenten, die auf einander schossen, zu schlafen. Eine unbekannte Kraft trieb sie dazu, sich auszuziehen, ihren Rock über den Kopf zu schwingen und den schießenden Studenten zuzurufen: „Ich will euch alle.“ Georgiana war gleichzeitig klar, dass sie diesen schändlichen Gedanken, der ihren ganzen Körper elektrisierte, nur dann loswerden konnte, wenn sie Angelo finden würde. Sie drehte sich um und begann den Poeten zu suchen, sie lief zurück in den kleinen Wald und rief seinen Namen. Der Poet war aber nirgends zu sehen, draußen wurde es immer dunkler, und je dunkler es wurde, desto stärker wurde Georgiana von dem unmenschlichen Wunsch erschüttert, zu den Soldaten zurückzukehren und mit ihnen bis zum Morgen Sex zu haben. Georgiana hockte sich hin und begann zu weinen. Ein hagerer alter Mann erschien an ihrer Seite und sagte:
"Folge mir."
Georgiana ging ihm folgsam nach, verließ den Wald und ging die U-Bahntreppe hinunter. Als sie den Bahnsteig erreichten, sagte Schota zu ihr:
"Geh und setz dich auf dem Stuhl da drüben."
Das Mädchen setzte sich hin, und als sie sich umsah, war der alte Mann nirgends zu sehen.
Aus dem Rumänischen von Aranca Munteanu
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